Feierstunde im Musiksaal: Als erste Schule im Kreis bietet die Goetheschule alevitischen Religionsunterricht an
An der Goetheschule erlernen jetzt 14 Jungen und Mädchen in deutscher Sprache die Grundbegriffe ihrer angestammten Religion
Als erste Schule im Kreis bietet die Asperger Goetheschule seit diesem Schuljahr alevitischen Religionsunterricht an. 14 Erstbis Viertklässler – darunter drei von der Hölderlinschule – lernen jeden Mittwoch in deutscher Sprache die Grundbegriffe des Alevitentums kennen. Erstmals Religionsunterricht für alevitische Kinder
Derya Kurt lernte als Kind nicht viel über ihre alevitische Religion. Religionsunterricht gab es für sie nicht – und ihre Eltern hatten wenig Zeit. Außerdem haben sich die mittlerweile rund 70 000 baden- württembergischen Aleviten zumeist erst in den 1990er Jahren organisiert – nach dem schweren, antialevitischen Pogrom von 1993 in der Türkei, als zahlreiche alevitische Künstler und Intellektuelle einem Brandanschlag zum Opfer fielen. In ihrem Herkunftsland, der vom sunnitischen Islam geprägten Türkei, werden die Aleviten nach wie vor diskriminiert. In Asperg kann Derya Kurt nun die alevitische Religionslehre unterrichten – für die Aleviten im Kreis Ludwigsburg ein historischer Schritt, wie deren Vorsitzender Hasan Cicek jetzt bei einer Feierstunde im Musiksaal der Goetheschule sagte. Auch Rektorin Regina Berg und Gabriele Traub, die Leiterin des Staatlichen Schulamts Ludwigsburg, betonten die Bedeutung des Religionsunterrichts für die Identitätsbildung und Werteorientierung junger Menschen, die so leichter zu Toleranz und Integration fänden. Zu den Gratulanten zählten ferner Aspergs Erster Beigeordneter Manfred Linder und Yonca Yazici vom Staatsministerium.
Was für den Kreis Ludwigsburg noch eine Art Pilotprojekt ist, dem bald drei weitere alevitische Klassen in Ludwigsburg folgen sollen, ist in anderen europäischen Ländern und einigen anderen Bundesländern schon erfolgreich erprobt worden – und auch in Baden-Württemberg bieten mittlerweile 30 staatliche Schulen alevitischen Religionsunterricht an. Gehalten wird er durchweg auf Deutsch und von (derzeit erst 13) Lehrkräften mit staatlicher Qualifikation und Lehrbefugnis. Derya Kurt etwa ist im Hauptberuf Lehrerin an einem kaufmännischen Berufskolleg in Waiblingen, mittwochs unterrichtet sie die Asperger Grundschüler – und so manches Wochenende verbringt sie zusätzlich an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, um sich dort in der alevitischen Religionspädagogik weiterzubilden. An der oberschwäbischen PH ist derzeit die Ausbildung der alevitischen Religionslehrer im Südwesten konzentriert, die vom Landesverband der alevitischen Gemeinden mitfinanziert wird. Der wünscht sich, dass die Kosten der in kompakten Wochenendseminaren organisierten Ausbildung eines Tages möglichst voll vom Land übernommen werden. Doch dass ihre Religion jetzt erstmals an einer öffentlichen Schule im Kreis gelehrt wird, ist für die hiesigen Aleviten ein großer Schritt: „Ich bin begeistert, dass ich hier unterrichten darf“, sagt Derya Kurt. Ihr Strahlen lässt keinen Zweifel daran zu.
Die Aleviten
Das Alevitentum wird im Allgemeinen als eigenständig ausgeformte Abspaltung des schiitischen Islam betrachtet, mit dem es die Verehrung des Kalifen Ali und der zwölf Imame teilt. Allerdings hat das Alevitentum auch Elemente des Sufismus und anderer, vor allem mesopotamischer Religionen aufgenommen. In der Türkei, aus der 95 Prozent der in Deutschland lebenden Aleviten stammen, soll es heute über 20 Millionen Anhänger dieses Glaubens geben. Offizielle Zahlen über die Stärke dieser diskriminierten Minderheit existieren jedoch nicht. In Deutschland gibt es mittlerweile rund 500 000 Aleviten. (pro)
(Text: Steffen Pross, (Ludwigsburger Kreiszeitung vom 11.11.11, Seite 13)